Mit der tanzpädagogischen und choreographischen Leitung des Projekts hat Thema- Tanz e.V. Christian Judith und Silke Hüttel-Judith von K Produktion beauftragt. Silke Hüttel-Judith arbeitet seit vielen Jahren als Tanzpädagogin. Christian Judith ist Diplom- Sozialpädagoge und Diplom-Sozialarbeiter. Er ist von Geburt an körperbehindert und arbeitet seit über 20 Jahren in der Behindertenbewegung, ist im bioethischen Arbeitskreis der ISL (Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben) e.V. Deutschland und hat 2004 die Firma K Produktion mit den Geschäftsfeldern „inklusiv tanzen“, „behindertenpolitisch fortbilden“, „barrierefrei veranstalten“ und „übersetzen in Leichte Sprache“ gegründet. Er ist Unterstützer verschiedener Werkstatträte und Wohnbeiräte.
Starten wir direkt mit der zentralen Frage für dieses Projekt: Wie passen Tanz und Inklusion zusammen?
Christian: Auf den ersten Blick ja erst mal gar nicht. Es gibt bestimmte Vorstellungen, wer tanzen kann und wer auf die Bühne gehört. Man denkt vielleicht eher an eine Ballerina. Du denkst nicht unbedingt an einen kleinen, dicken Menschen auf dem Dreirad oder an einen alten Menschen mit Falten im Gesicht. Ästhetik und Schönheit haben es aber verdient, neu begriffen und neu gefühlt zu werden. Tanzen hat es früher für mich nicht gegeben und irgendwann hat sich diese Tür aufgemacht und ich konnte bei einem Tanzworkshop mitmachen, meinen Körper spüren und erleben. Und ich habe mich gefragt: Warum kann ein Körper, der aus der Norm fällt, nicht genauso auf die Bühne? Warum sollen diese Körper keine majestätischen und wundervollen Bewegungen produzieren können, die erlebt und fühlbar gemacht werden. Aus dieser eigenen Faszination wuchs die Notwendigkeit, selber genau so etwas anzubieten, um diese selbst erlebte Glück zu teilen.
Wie muss ich mir Techniken des inklusiven Tanzes vorstellen, die solche Veränderungen bei den Tänzer:innen bewirken? Könnt ihr da noch ein bisschen ins Detail gehen?
Silke: Wir beginnen, egal ob Workshop, Seminar oder Dauerprojekt mit einer Aufwärmphase. Abhängig vom Gesamtthema geben wir Bewegungsqualitäten und Spiele vor oder lassen die teilnehmenden Tänzer:innen eine Bewegung vormachen, die von allen nachgemacht wird – jeweils im Rahmen ihrer tänzerischen Möglichkeiten. Da wir alle verschieden sind und alle verschiedene Bewegungsmöglichkeiten haben, muss eine vorgemachte Bewegung, zum Beispiel ein Sprung in die eigene Bewegung „übersetzt“ werden. Das heißt, zum Beispiel ich springe in die Luft, und Christian auf seinem Dreirad kann ja nicht so in die Luft springen. Also übersetzt er meine Bewegung in seine Möglichkeiten, sodass daraus dann ein gemeinsamer Sprung wird.
Christian: Die zweite Sache ist der gemeinsame Nenner. Wenn du jetzt zum Beispiel deine Brille abnimmst, dann versuche ich es genauso zu machen, wie du. Ich schaue also, wie macht der andere etwas und versuche, das zu kopieren. Wir finden einen gemeinsamen Nenner, in dem sich unsere Bewegungen treffen. Ziel ist es dann eine gemeinsame synchrone Bewegung zu entwickeln.
Silke: Dann kommt natürlich noch mehr! Je nach Projekt erfolgt der weitere Ablauf. Wir leiten die Tänzer:innen an, sich selbst, den Raum und dann auch ihr Gegenüber wahrzunehmen, zu spüren und in Kontakt zu gehen. Wir tanzen mit Elementen des modernen, zeitgenössischen Tanzes und der Kontaktimprovisation. Stichworte daraus sind „Nah und Fern“, „Ebenenwechsel“, „unterschiedliche Geschwindigkeiten“, „Führen und Folgen“ und andere. Und immer wieder freies Tanzen ohne Vorgaben. Was von uns gerne mit eingeplant wird, sind kleinere Auftritte und Choreographien, sodass auch am Ende eines Ein-Tages- Workshops die Tänzer:innen vor Publikum getanzt haben: für viele vorher kaum vorstellbar, am Ende aber strahlende Gesichter!
Christian: Wir versuchen, die Menschen auch an ihre Bewegungsgrenzen zu bringen und manchmal auch ein Stück darüber hinaus. Wir Menschen lernen einfach Körperhaltungen,
mit denen wir durchs Leben gehen. Du kannst dich aber im Alltag entscheiden, wie du zum Beispiel über die Straße gehst: langsam, schleichend, laufend… Gerade das, was ich eigentlich nicht kenne, noch nicht ausprobiert habe an Bewegung, ist eine Herausforderung, die zu großem Lustgewinn führt, wenn ich diese Grenze überwinde. Menschen erleben an sich Veränderung, wenn Sie an diese Herausforderung arbeiten.
Das, was ihr beschreibt hat ganz viel mit Nähe zu tun, deshalb frage ich mich, wie so etwas im Digitalen funktioniert hat, was ja als Folge der Corona-Pandemie notwendig wurde?
Christian: Diese Arbeit braucht so viel Vertrauen. Wir bringen Menschen an ihre Grenzen, vielleicht müssen Sie auch Scham überwinden: Der große Vorteil war, dass die Tänzer:innen sich schon kannten, deshalb war der Sprung vom Analogen ins Digitale leichter. Hätten wir von Anfang an nur online die Trainings gemacht, weiß ich nicht, ob das so gut und leicht funktioniert hätte. Dieses Erlebnis, wie toll es ist, live miteinander zu tanzen, das hat es gebraucht, damit es digital auch gut klappt. Die Energie, die Schwingungen waren schon da.
Silke: Wir haben vorher überlegt, was sich gut online zeigen lässt. Wenn es eigentlich eine Partnerübung war, haben wir gesagt, „nehmt einen Stuhl“ oder „bewegt euch auf den Bildschirm zu“. Da war schon viel Übersetzungsleistung nötig, es war ein gemeinsamer Lernprozess. Natürlich funktioniert nicht jede Übung.
Christian: Die Menschen haben in der Regel alleine zuhause getanzt. Damit bestimmte Aufgaben überhaupt umgesetzt werden konnten, haben wir Material versandt. Zum Beispiel haben wir allen Tänzer:innen in einem kleinen Paket Essstäbchen geschickt. Zu Hause hat dann jeder für sich ein Muster mit den Stäbchen aus dem Boden gelegt und in dem Muster getanzt.
Silke: Es gab Tanzbilder, die online neue Qualitäten entwickelt haben. Beim Handtanz lassen die Tänzer:innen ihre eigenen Hände miteinander tanzen. Durch den Fokus nur auf die Hände entsteht eine besondere Intensität. Die Kamera des Tablets nimmt auf, was vor ihr geschieht und das ist eben dieser intensive Handtanz. Das geschieht gleichzeitig in bis zu acht verschiedenen Zimmern mit acht verschiedenen Hand-Tänzer:innen. Das sind starke Bilder! Auch beim Stuhltanz, bei dem jede:r Tänzer:in auf einem Stuhl sitzt und tanzt, sind bei der Onlinevariante neue Formen der Kreativität entstanden. Aber ganz offen gesagt, haben wir auch Tänzerinnen und Tänzer verloren, für die die Umsetzung der Onlinevariante im häuslichen Umfeld nicht möglich war.
Christian: Es war eine große Freude für alle, dass unsere Tanztrainings weitergeführt wurden. Online zusammenzukommen war aber auch an sich ein gemeinsames Erlebnis, da häufig fast alle Dinge aus dem Leben verschwunden waren in der Coronazeit. Zu Beginn der Tanztrainings haben wir uns manchmal nur darüber ausgetauscht, was wir in der letzten Woche erlebt haben. Wir haben auch eine kleine Weihnachtsfeier gemacht. Alle bekamen ein Päckchen mit Keksen, Kerze und allem, was so zu Weihnachten dazugehört. Die Päckchen haben wir dann gemeinsam vor dem Tablet aufgemacht und uns über den Inhalt gefreut. Alle waren allein zu Haus und doch gleichzeitig beieinander. Der Lockdown hat ja gerade Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, besonders hart getroffen, da diese auch geschlossen wurden und so Arbeit und die damit verbundenen Begegnungen als ein wesentlicher Faktor des Lebens für eine lange
Zeit weggefallen sind.
Silke: Wir haben dann gemerkt, als wir im Juni 2021 wieder mit Live-Trainings anfangen konnten, dass wir auf einem guten Stand weitermachen konnten, dass wirklich etwas passiert war durch die Online-Trainings und wir nicht wieder bei null starten mussten.
Habt ihr noch einen Punkt, der euch im Digitalen überrascht hat?
Christian: Generell war es natürlich einfach faszinierend, dass alle relativ schnell in der Lage waren, die Technik zu bedienen. Das war ein echter Kompetenzzuwachs, ein Digitalisierungsturbo, der da eingesetzt hat bei vielen Teilnehmer:innen. Wir alle haben ganz schnell ganz viel dazugelernt.
Silke: Es sind neue und sehr schöne Bilder entstanden. Die Tänzer:innen haben im Laufe der Zeit spielerisch, kreativ das Tablet und den PC als Tanzpartner:in mit eingebaut. Jetzt hattet ihr mit dem Projekt ja die wunderbare Idee, inklusive Elemente in klassische Veranstaltungen einzubringen, um nicht immer nur die üblichen Verdächtigen mit Inklusion in Verbindung zu bringen. Das war ja ein hoher Motivationsfaktor für das Projekt.
Inwieweit kann das Video, das zum Projekt entstanden ist, das ersetzen?
Silke: Wichtig ist: Das Projekt muss einen guten Abschluss finden, ein sichtbares Ergebnis produzieren. Das schaffen wir durch ein gemeinsames Video. Die Intensität, die wir beim Dreh erlebt haben, war überwältigend. So ist es für die Tänzer:innen sichtbar, dass ihre Arbeit Früchte trägt.
Christian: Am Anfang war die Enttäuschung natürlich groß, dass es nicht zu Auftritten kommen wird, dann hat sich das Projekt verändert und wir haben uns an die neue Realität gemeinsam angepasst. Aber diese Zusammenfassung, dieser Honorierung und Wertschätzung durch den Film, das ist absolut entscheidend. Unsere gemeinsame Arbeit läuft nicht einfach so aus, sondern es gibt etwas Greifbares: Kameramann, Beleuchtung, das war schon eine besondere Situation und eine hohe Wertschätzung für alle Beteiligten.
Wenn ihr das Projekt kurz für euch zusammenfasst in dieser verrückten Zeit – Lockdown, Hoffnung, dass es vorbeigeht, steigende Zahlen, wieder Lockdown,
wieder Projektanpassung – was ist euer Resümee?
Christian: Meine wesentliche Erfahrung war die Flexibilität der Teilnehmenden, die allermeisten sind dabeigeblieben, was mich tief gefreut hat. Wir sind uns alle unheimlich nah gekommen in dieser Zeit. Man bekommt viel voneinander mit, wenn man als Gruppe in so einer herausfordernden Zeit zusammenbleibt. Man bekommt Veränderung von Lebensabschnitten mit, spricht über Ängste, erlebt gemeinsam Veränderung. Dass Menschen sich uns als Choreograf:innen so anvertraut haben, das ist etwas Besonderes und das nehme ich aus dieser gemeinsamen Zeit als tiefe Erfahrung mit. Ich bin auch begeistert, dass Aktion Mensch das so mitgemacht hat. Diese Flexibilität von Seiten eines Förderers haben wir sehr geschätzt. Wir konnten das Projekt den Gegebenheiten anpassen und haben die Aktion Mensch immer an unserer Seite erlebt.
Silke: Mich fasziniert immer wieder die Veränderung der Menschen, die durch den Tanz entsteht. Die Freude, sich wieder zu sehen, gemeinsam zu tanzen, sich durch den Tanz neu zu entdecken. Den Mut haben, eigene Ideen einzubringen und auszuprobieren. Eigene Grenzen zu überschreiten, weil sie sich von der Gruppe getragen und angenommen fühlen.